NZZ – Wolfgang Ullrich

Es ist unklug, politisch-moralische Diskurse vor allem als Diskurse über Werte zu führen. Denn die Werteseligkeit in der heutigen Gesellschaft hat auch eine gefährliche Kehrseite. Es ist nämlich die Seligkeit nur von Eliten.

Seit geraumer Zeit ist kaum etwas so beliebt wie Werte. Politiker beschwören «unsere Werte», Kulturkonservative berufen sich auf Heimat oder Tradition als ihre Werte, linksalternative Milieus bekennen sich zu Werten wie Nachhaltigkeit und Multikulturalismus und richten ihr Konsum- und Freizeitverhalten danach aus.

Über alle Unterschiede hinweg ist diesen Diskursen dabei die Annahme gemeinsam, dass Werte jeweils erst und immer wieder in Kraft gesetzt werden müssen. Wer eine nihilistische Diagnose stellt, also für die gesamte Gesellschaft einen generellen Verlust der Werte beklagt und deren Neubelebung fordert, aber auch wer sich um einzelne Werte kümmert, um individuell profilierter zu sein, vertritt gleichermassen die Überzeugung, dass Werte nur durch persönlichen Einsatz Geltung erlangen können. Solange sie nicht eigens verkörpert sind, bleiben sie abstrakt und leer.

Diese Defizitunterstellung legt jedoch nicht nur eine Handlungsnotwendigkeit nahe, sondern verheisst vor allem einen Handlungsspielraum. Die Verkörperung und Realisierung von Werten verlangt und erlaubt jeweils eine Gestaltung: Hier ist Kreativität gefragt.

«Familie» als Wert – was heisst das?

Damit aber ist es für viele attraktiver, nach Werten zu leben, als ihr moralisches Leben an Tugenden, Pflichten oder Normen zu orientieren. Denn zu deren Erfüllung steht kaum Spielraum zur Verfügung: Man wird ihnen gerecht, oder man verfehlt sie. Anders als Werte existieren sie – so zumindest die herrschende Vorstellung – an sich und objektiv, und sie erlegen dem Menschen verbindliche Verhaltensregeln auf. Zwar kann man sich beim Essen oder im Energieverbrauch als massvoll erweisen oder tapfer in einem Beziehungskonflikt oder in einer Gefahrensituation sein, doch was massvoll und was tapfer ist, ist jeweils kaum strittig.

Dagegen lässt sich ein Wert wie «Familie» ganz unterschiedlich realisieren. Die einen geben viel Geld für eine möglichst grosse Wohnung aus, so dass jedes Kind genügend Platz hat, andere setzen alles daran, sich möglichst viel Zeit für die Kinder zu nehmen, weshalb sie vielleicht sogar auf eine berufliche Karriere verzichten. Wieder andere ziehen aufs Land, um den Kindern ein Aufwachsen in natürlicher Umgebung zu ermöglichen und um familiäre Rituale möglichst ungestört pflegen zu können.

Das Beispiel macht darauf aufmerksam, dass Werte bei ihrer Verwirklichung aber nicht nur Spielraum lassen, sondern zusätzlich zu einer immateriell-ideellen Dimension immer auch eine materielle Grundlage haben. Das gilt bereits für ihre gesamte Begriffsgeschichte. So verstand man unter Werten lange Zeit sogar primär materielle Güter – ein Haus, Schmuck, eine gute Aussteuer –, die aber zugleich mehr waren, da sie für Tradition, Fleiss oder gesellschaftlichen Status standen oder es erlaubten, sich für andere Menschen einzusetzen. Mittlerweile haben sich die Akzente verschoben.

Als Werte gelten nun Familie, Heimat oder Nachhaltigkeit – und das zuerst deshalb, weil sich damit Ideen eines guten Lebens verbinden. Sekundär spielt jedoch nach wie vor eine Rolle, dass bestimmte materielle Voraussetzungen vorhanden sein müssen, um diese Ideen auch verwirklichen zu können. Nur wer das Geld für die grössere Wohnung oder das Haus auf dem Land hat oder über genügend Rücklagen verfügt, um auch Teilzeit arbeiten zu können, wird es schaffen, den Wert «Familie» glaubwürdig zu realisieren.

An Ressourcen gebunden

Oft genügen nicht einmal Geld oder Zeit, um den eigenen Werten in gewünschtem Umfang Ausdruck zu verleihen. Vielleicht braucht man Bildung, vielleicht sogar spezifische inszenatorische oder performative Fähigkeiten – eben Kreativität –, um jene Spielräume zu füllen. Wer etwa auf die Strasse geht, um für einen Wert wie Datenschutz zu demonstrieren, wer eine Crowdfunding-Kampagne initiiert, um der Nachhaltigkeit in der Produktion auf die Sprünge zu helfen, wer sich für den Erhalt eines alten Gebäudes einsetzt, kann das jeweils nicht tun, ohne auf zahlreiche Ressourcen zurückzugreifen. Man muss sozioökonomisch und von seinen Anlagen her mehr oder weniger stark privilegiert sein; sonst ist ein Erfolg nahezu ausgeschlossen.

Wer Werte nicht eigens zur Geltung bringen kann, ist bestenfalls bieder und langweilig.

Positiv formuliert bedeutet das, dass Werte es erlauben, materielle Güter und Produktionsmittel aller Art für etwas zu verwenden, das einen ideellen Charakter besitzt. Sie stimulieren zu Transformationsleistungen, bei denen Geld oder Wissen dazu genutzt wird, die Welt ein klein wenig besser zu machen. Im mindesten verhilft man einem Wert wie Geschichte, Toleranz oder Fair Trade in der eigenen Lebenswelt zu mehr Realität, vielleicht wird man aber auch für andere Menschen zum Vorbild und schärft deren Bewusstsein für bestimmte Werte.

So weit, so gut. Doch hat die Werteseligkeit in der gegenwärtigen Gesellschaft auch eine gefährliche Kehrseite. Es ist nämlich die Seligkeit nur von Eliten. Und sie führt dazu, dass diejenigen, die über keine Privilegien verfügen, die also nicht wohlhabend, gebildet und kreativ begabt sind und die daher jene Spielräume nicht zu füllen vermögen, sich immer wieder als Menschen zweiter Klasse erfahren müssen.

Für sie stellt es einen grossen Nachteil dar, dass es unüblich geworden ist, die moralische Qualifikation an Tugenden oder Pflichten zu messen, sondern dass es vornehmlich darum geht, Werte umzusetzen. Denn um massvoll, gerecht, ehrlich oder rücksichtsvoll zu sein, braucht es weder Geld noch Begabung, ja nichts, worüber nicht jeder Mensch allein dadurch verfügt, dass er Mensch ist. Sind Tugend- und Pflichtenethiken ihrer Logik nach also egalitär, ist eine Wertethik im Gegenteil exklusiv. Sie ermöglicht es nicht allen Menschen gleichermassen, auch gute Menschen zu sein. Vielmehr gilt: Wer Werte nicht eigens zur Geltung bringen kann, ist bestenfalls bieder und langweilig, wird vielleicht aber sogar als abgestumpft, gleichgültig, unverantwortlich wahrgenommen.

Stolz darauf, stolz zu sein

Aber damit nicht genug. Die Ungleichheit steigert sich noch dadurch, dass die Privilegierten, die ihre Werte umfassend ausleben können, dazu neigen, auch stolz darauf zu sein und sich daher über andere Menschen zu erheben. Immerhin tun sie – zumindest nach eigenem Empfinden – nicht nur etwas Gutes, wenn sie sich für Familie, Natur oder Nachhaltigkeit engagieren, sondern erweisen sich zudem als aktiv und kreativ. Sie gestalten die Werte ja eigens und vollbringen damit gute Werke im doppelten Sinn. Moralstolz und Schaffensstolz verbinden sich miteinander und sorgen für Glücksgefühle, die sich im Empfinden eines guten Gewissens ausdrücken. Die Privilegierten werden somit zu Gewissenshedonisten, die schnell dabei sind, mit Dünkel und erhobenem Zeigefinger auf die vielen anderen herabzublicken, die nicht genauso gute Werke vollbringen.

Während die einen sich dank ihrem wertebewussten Lebensstil selbst als wertvoll erleben, kommt es den anderen so vor, als seien sie nur Trash.

Die Orientierung an Werten führt somit zu einer Verstärkung und Vertiefung sozialer Unterschiede. Wer wohlhabend ist, kann sich und sein Leben auch noch als gerechtfertigt erfahren, wer hingegen arm ist, erscheint gleich ein zweites Mal, nämlich in moralischem Sinne, als mangelhaft, gar als minderwertig. Und während die einen sich dank ihrem wertebewussten Lebensstil selbst als wertvoll erleben, kommt es den anderen so vor, als seien sie nur Trash. Es liegt somit in der Logik einer Wertethik, dass sich auf der einen Seite eine Moralaristokratie herausbildet, in der sich alles um das imposante Verkörpern einzelner Werte dreht, während andererseits ein Moralproletariat entsteht, das kaum eine Chance auf Anerkennung hat.

Schon bei Max Scheler, der vor rund einem Jahrhundert die umfassendste Wertethik ausgearbeitet hat, bestand das entscheidende Kriterium für moralisches Verhalten nicht etwa darin, dass es gegenüber dem kategorischen Imperativ bestehen kann, sondern dass es spezifisch und individuell einen Wert zum Ausdruck bringt. Eine moralische Handlung war für Scheler letztlich sogar genauso einzigartig wie ein Kunstwerk. Ein imposant realisierter Wert ist damit ein Meisterwerk – oder, wie man auch sagen könnte, ein Meisterwert. Wirklich imposant wird dieser aber nur, wenn möglichst grosse Mittel zu seiner Realisierung zur Verfügung stehen. Und es wird umso mehr ein Werk daraus, je begabter jemand ist, diese Mittel auch zu nutzen.

Moralisches Wohlstandsgefälle

Massgeblich konnte eine Wertethik allerdings erst in einer Wohlstandsgesellschaft werden, in der hinreichend viele Menschen genügend materielle Ressourcen haben, um sie auch für die Umsetzung von Werten übrig zu haben. Aber selbst wenn es viele sind, die nun ihre Werte realisieren, sind es noch mehr, die das nicht oder nur ungenügend können. Dass sie gegenüber dem Moraladel und angesichts von dessen Neigung zu Selbstgerechtigkeit Ressentiments entwickeln, liegt auf der Hand.

Davon zeugen bereits die populistischen Bewegungen, die in den letzten Jahren gerade in den Ländern virulent geworden sind, in denen ein moralisches Wohlstandsgefälle entstanden ist. In ihnen könnte man sogar eine neoprotestantische Mentalität erkennen, geht es doch heute nicht anders als vor fünfhundert Jahren darum, dass sich Menschen dagegen wehren, nur deshalb als moralisch schlechter qualifiziert zu gelten, weil es ihnen an äusseren Voraussetzungen dazu fehlt, als gut anerkannte Werke zu tun. Wie damals vor allem der Ablasshandel Widerstände auslöste, sind es heutzutage Crowdfunding-Projekte, Bio-Supermärkte, traditionsbewusste Do-it-yourself-Szenen oder der politische Kunstaktivismus, die den Argwohn wecken, einigen zu viel und allen anderen viel zu wenig Chancen auf ein gutes Gewissen zu gewähren.

Es ist höchste Zeit zu erkennen, wie gefährlich es ist, politisch-moralische Diskurse vor allem als Diskurse über Werte zu führen. Und es braucht eine Debatte darüber, wie sich verhindern lässt, dass sozioökonomische Unterschiede zu weiteren Unterschieden führen und nichtprivilegierte Menschen zugleich als moralische Personen abgewertet werden. So oft gerade die politische Linke den Kapitalismus als Motor sozialer Ungleichheit kritisiert hat, so selten hat man bisher die herrschende Wertethik als Motor moralischer Ungleichheit kritisiert. Wenn sich das nicht bald ändert, drohen unruhige Zeiten.

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